Texte verstehen, missverstehen, interpretieren?

Chimkcifettib

Virgin
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Jan 7, 2023
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Wie verstehen wir Texte? Was braucht es damit ein Text verstanden wird?

Folgendes Beispiel sei eine Textpassage aus einer Geschichte:

Max betrat den Besprechungsraum und seufzte innerlich. Die Besprechung würde wieder endlos dauern. Peter würde wie immer kein Ende finden und sich in seinen Gedankengängen verirren. Martin würde wie ein Papagei nachplappern, was der Abteilungsleiter…

„Guten Morgen Max!“ Holger sog übertrieben die Luft ein und riss ein Fenster nach dem anderen auf.

Max nickte ihm zu und starrte trübsinnig in den grauen Novembertag.

Langsam füllte sich der Besprechungsraum. Anne quetschte sich an den Kollegen vorbei und setzte sich neben Max. Sie rieb sich die Oberarme und umklammerte dann die Kaffeetasse, die Louise ihr hinstellte. Holger, der ihnen gegenüber auf seinem Stuhl lümmelte, verdrehte die Augen und grinste dann Max an.

„Du mich auch!“ murmelte Anne kaum hörbar.

Christoph stand auf und schloss die Fenster. Gerne hätte Max noch etwas länger die kalte feuchte Luft eingeatmet. Sie brannte beinahe in den Lungen und vertrieb die bleierne Müdigkeit, die ihm seit Tagen zusetzte. Aber Christoph war schneller gewesen.

„Du musst nicht gleich springen, wenn Anne mit dem Finger schnippt!“

Für einen Augenblick hatte die durchdringende Stimme alle Gespräche unterbrochen. War klar, dass Holger es nicht lassen konnte.

„Christoph, möchtest Du auch einen Kaffee?“

Max lächelte. Auf Louise war Verlass. Wann immer jemand stichelte, motzte oder schlechte Laune verbreitete, rettete Louise die Situation. Notfalls mit einer Tasse Kaffee, die Christoph dankend annahm. Die Röte an seinem Hals und den Wangen ließ langsam nach.
 
Das dürfte wohl im Grunde davon abhängen wie subtil der Autor es beschreibt und wie intelligent der Leser ist bzw. auch wie genau der den Text liest und darüber nachdenkt. Das ist halt der Nachteil von geschriebenen Texten gegenüber Filmen und Serien. Da kannst du viel von Gesichtsausdrücken und Körperhaltung ablesen, das fehlt beim geschriebenen Text. Also Autor kannst du versuchen das auszugleichen, was bei einigen gut gelingt und bei anderen weniger. Da muss wohl jeder seinen eigenen Stil finden.
 
Super Thread, und toll geschriebenes Beispiel! Tatsächlich ist das eine Frage, die mich auch andauernd umtreibt: Was muss ich dem Leser wie erklären? Und in welcher Tiefe? Jedenfalls verstehe ich die Frage so.

Das setzt auf vielen Ebenen ein: Versteht der Leser die Handlung an sich, oder muss ich ihn durch alle Schritte führen? Sorry, wenn ich mich gleich selbst als Beispiel nehme, aber meines war eine Art Krimi, und ich habe meine Zweifel, das alle Leser die Auflösung verstanden (oder auch nur vermisst) haben.
Auf der zweiten Ebene: Wie viel wird an Andeutung verstanden, oder von der unterschwelligen Kommunikation? Im Beispiel hier bin ich sofort an Bord, das ist meine Welt, ich kenne diese Art von Menschen, diese Art von Arbeit, die Situation. Ich kann mir die frierende Kollegin sofort vorstellen, die sich angesichts der offenen Fenster an die Kaffeetasse klammert, um sich aufzuwärmen. Ich kenne den Kampf um die Kontrolle der Klimaanlage und der Heizung beziehungsweise der Fenster. Aber wie weit folgt der Leser mir als Autor?

Machen wir es plastisch:

1. Das Original:
Anne quetschte sich an den Kollegen vorbei und setzte sich neben Max. Sie rieb sich die Oberarme und umklammerte dann die Kaffeetasse, die Louise ihr hinstellte.
Das verstehe ich. Das umfassen der Oberarme, um sich zu wärmen, der feste Griff um die Kaffeetasse, mit dem gleichen Ziel. Ich bin zwar keine Frau, aber zumindest eine Frostbeule

2. Eskalationsstufe zwei:
Anne quetschte sich an den Kollegen vorbei und setzte sich neben Max. Sie rieb sich frierend ihre Oberarme und umklammerte wärmesuchend die Kaffeetasse, die Louise ihr hinstellte.
Das wird dann schon recht deutlich, aber m. E. noch nicht penetrant.

3. Eskalationsstufe drei:
Anne quetschte sich an den Kollegen vorbei und setzte sich neben Max. Die kalte Luft, die jetzt ins Zimmer strömte, ließ sie leise frösteln. Sie rieb sich frierend ihre Oberarme und umklammerte wärmesuchend die Tasse mit dem heißen Kaffee, die Louise ihr hinstellte.
Jetzt kapiert es hoffentlich jeder. Aber für manche wäre es zu viel.

Das funktioniert auf allen Ebenen. Andeutungen, Bilder, unausgesprochene Gefühle - was muss wie weit an die Oberfläche? Das ist eine Abwägung zwischen gute Idee, hat nur keiner Mitbekommen und dem Erzähler als nervigem Erklärbär, der seine Leser für Idioten hält und sie das spüren lässt.

Die ideale Erzählung hat die volle Tiefe, und überlässt es jedem selbst, sie auszuschöpfen. Das setzt voraus, dass sie auf jeder Ebene funktioniert, dass keine Information verloren geht, die für das Verständnis essentiell ist, auch, wenn man man nicht alles ganz versteht. Nur, das sagt sich leicht - die Umsetzung ist schwer.
 
Mir geht es wie swriter – ich verstehe die Aufgabe nicht.
 
Wenn ihr die Aufgabe nicht versteht, liegt das höchstwahrscheinlich daran, dass ihr das Beispiel voll versteht ;) Euch muss man nichts erklären, und ihr fragt euch "was will er denn?"

Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, dass sich viele Leser nicht in die Situation hinein versetzen können, die Fraktionen, die sich bilden, warum der Griff an Oberarm und Kaffeetasse vorkommt, oder wen und warum Anne ihr „Du mich auch!“ murmelt. Die Frage ist, wie nachvollziehbar ich das machen muss, um als Autor anzukommen. Und wann ich es übertreibe.
 
Wenn ihr die Aufgabe nicht versteht, liegt das höchstwahrscheinlich daran, dass ihr das Beispiel voll versteht ;) Euch muss man nichts erklären, und ihr fragt euch "was will er denn?"
Vielleicht kann @Chimkcifettib diese Annahme bestätigen oder zur Aufklärung beitragen?

Was muss ich dem Leser wie erklären? Und in welcher Tiefe? Jedenfalls verstehe ich die Frage so.
Da fehlt mir der Kontext. Anhand der Szene weiß ich ja gar nicht, was der Leser wissen und verstehen muss.
Worauf will der Autor hinaus? Passiert gleich ein Mord? Ist es die Vorbesprechung zu einem Gang-Bang? Oder hat Max nachher seinen ersten Termin, um über seine Depressionen zu sprechen?
 
Vielleicht kann @Chimkcifettib diese Annahme bestätigen oder zur Aufklärung beitragen?


Da fehlt mir der Kontext. Anhand der Szene weiß ich ja gar nicht, was der Leser wissen und verstehen muss.
Worauf will der Autor hinaus? Passiert gleich ein Mord? Ist es die Vorbesprechung zu einem Gang-Bang? Oder hat Max nachher seinen ersten Termin, um über seine Depressionen zu sprechen?
Ich finde der Thread selbst ist das beste Beispiel dafür, was der Eröffner fragen wollte: Einige haben die Aufgabe verstanden (oder glauben es zumindest), andere sind unsicher und andere verstehen Bahnhof. Das Grundproblem jeglicher Kommunikation: Sag ich zu wenig, sag ich zu viel? Passt die Wortwahl für das zu erwartende Publikum? Vielleicht hätte der Ersteller des Threads da konkreter werden können, vermutlich hat er aber angesichts der Leser ( fast allesamt selbst Autoren) gedacht, es sei selbsterklärend.
 
Ich verstehe den Thread nicht. Worüber genau möchtest du diskutieren?
Über die zwei "dann", die man hätte weglassen können? ;)
Die zwei „dann“ sind mir im Nachhinein auch aufgefallen und ja sie sind im Grunde überflüssig, da es klar ist dass sowohl bei Anne als auch bei Holger die Handlungen nicht gleichzeitig ablaufen können. Ich wollte mir aber genau das (Ausschluss der Gleichzeitigkeit) nicht von einem Leser vorwerfen lassen 😂.

Aber nun zum Sinn des Threads oder zumindest dem, was ich mir dabei gedacht habe. Die Szene enthält relativ viel, was dem Leser nicht explizit mitgeteilt wird. Leser A fragt sich vielleicht, was soll das denn? Leser B fühlt sich an eine oder mehrere Situationen, die er selbst erlebt hat, erinnert, Leser C kann sich vorstellen, was gemeint ist und Leser D … usw.

Genau wie @Phlegeton frage ich mich öfters wie sehr muss ich etwas ausformulieren, reicht die Andeutung, gehe ich vielleicht zu sehr von mir und meiner eigenen Art meine Umwelt wahrzunehmen aus. Und wenn das der Fall ist, ist das schlimm?

@volllust hat es gut zusammengefasst.

Ich habe mir schon gedacht, dass es ein bisschen zu wenig ist, was ich als Einleitung geschrieben habe, habe es aber so stehen gelassen, weil ich die Diskussion nicht zu sehr einengen wollte. Anschließend folgt noch eine Erläuterung zum Beispiel.
 
„Guten Morgen Max!“ Holger sog übertrieben die Luft ein und riss ein Fenster nach dem anderen auf.

Es wird die Gestik von Holger beschrieben, die darauf hindeuten kann, dass die Luft im Besprechungsraum schlecht ist. Es wird aber dem Leser nicht direkt mitgeteilt. Holgers Handlung (Öffnen der Fenster) ist plausibel, wenn die Raumluft schlecht ist.

Max nickte ihm zu und starrte trübsinnig in den grauen Novembertag.

Langsam füllte sich der Besprechungsraum. Anne quetschte sich an den Kollegen vorbei und setzte sich neben Max. Sie rieb sich die Oberarme und umklammerte dann die Kaffeetasse, die Louise ihr hinstellte.
Der obere Absatz gibt indirekt darüber Auskunft, dass die Außentemperatur relativ zur Raumtemperatur niedrig ist.

Annes Handlungen (Oberarme reiben, Hände um warme Tasse legen) legen nahe, dass sie friert. Das ist auch plausibel ( offene Fenster dadurch kalte Luft im Raum)

Holger, der ihnen gegenüber auf seinem Stuhl lümmelte, verdrehte die Augen und grinste dann Max an.

„Du mich auch!“ murmelte Anne kaum hörbar.

Christoph stand auf und schloss die Fenster.

Holgers Handlung / Gestik zeigt, dass er sich über Anne lustig macht / mokiert. Entweder weil er weiß, dass Anne zum Frieren neigt oder weil Anne mit ihrer Gestik eine unausgesprochene Aufforderung die Fenster zu schließen aussendet. Weshalb sie nicht direkt jemanden, der in der Nähe der Fenster sitzt oder steht (das könnte möglicherweise Holger sein), ansprichst und darum bittet oder es selbst erledigt, kann zwei oder vielleicht auch mehr Gründe haben: Sie traut sich nicht, weil sie weiß, dass einer oder mehrere ihrer Kollegen „Frischluftfanatiker“ sind (könnten z.B. Holger oder Max sein) oder sie hält es nicht für notwendig jemanden zu bitten, sondern meint, dass Ihre Gestik schon jemanden dazu bringen wird die Fenster zu schließen.

Das „Du mich auch!“, das Anne murmelt bezieht sich auf ihre Interpretation von Holgers Verhalten (Augen verdrehen). Sie könnte z.B. angenommen haben, das Holger „Du kannst mich mal!“ gedacht hat. Ihre Antwort: „Du mich auch!“ Dem Leser wird dies aber nicht erzählt.

Christoph schließt die Fenster. Entweder hat er Anne gesehen (was ziemlich wahrscheinlich ist) als sie gestisch ausgedrückt hat, dass ihr kalt ist und tut ihr den Gefallen die Fenster zu schließen oder er macht es von sich aus. Im Besprechungsraum dürfte es auch schon merklich kühler geworden sein.

„Du musst nicht gleich springen, wenn Anne mit dem Finger schnippt!“

Für einen Augenblick hatte die durchdringende Stimme alle Gespräche unterbrochen. War klar, dass Holger es nicht lassen konnte.

Holger interpretiert Christophs Handlung (Fenster Schließen) offensichtlich so, dass Christoph sich durch Annes Gestik dazu veranlasst sah, d.h. er sich von der impliziten Aufforderung angesprochen gefühlt hat.
Mit seiner lauten Bemerkung brüskiert er Christoph und Anne. Aber vor allem Christoph, der von Holger als so etwas wie ein treu-doofer Dackel dargestellt wird.

„Christoph, möchtest Du auch einen Kaffee?“

Max lächelte. Auf Louise war Verlass. Wann immer jemand stichelte, motzte oder schlechte Laune verbreitete, rettete Louise die Situation. Notfalls mit einer Tasse Kaffee, die Christoph dankend annahm. Die Röte an seinem Hals und den Wangen ließ langsam nach.

Die Frage „Christoph, möchtest Du auch einen Kaffee?“ kann vollkommen sachlich und ohne eine zusätzliche Absicht von Louise gestellt worden sein. Max interpretiert es aber so, dass Louise Christoph aus der peinlichen Situation heraushelfen möchte.

Man sieht, dass dem Leser durch die Art wie die Szene erzählt worden ist viel Spielraum zum Interpretieren gegeben wird. Das kann man unsinnig oder sinnvoll finden.

Edit: Dass Holger Max angrinst, kann eine Provokation sein oder eine Aufforderung an Max zuzustimmen.
 
Last edited:
Man könnte die eingangs gepostete Szene auch ausformulieren, so dass dem Leser kein Interpretationsspielraum gegeben wird.

Eure Gedanken und Meinungen zum Erzählen würden mich interessieren. Möchtet ihr möglichst stark kontrollieren, wie Leser Euren Text verstehen bzw. interpretieren? Das würde dann eine Erzählweise erfordern, die dem Leser viel mitteilt und erklärt. Oder lasst Ihr einen größeren Interpretationsspielraum zu? Auch auf die Gefahr hin, dass Leser Euren Text anders als von Euch gedacht oder vielleicht auch gar nicht versteht?
Oder den Mittelweg wählen?
 
Das dürfte wohl im Grunde davon abhängen wie subtil der Autor es beschreibt und wie intelligent der Leser ist bzw. auch wie genau der den Text liest und darüber nachdenkt. Das ist halt der Nachteil von geschriebenen Texten gegenüber Filmen und Serien. Da kannst du viel von Gesichtsausdrücken und Körperhaltung ablesen, das fehlt beim geschriebenen Text. Also Autor kannst du versuchen das auszugleichen, was bei einigen gut gelingt und bei anderen weniger. Da muss wohl jeder seinen eigenen Stil finden.
Das denke ich auch und es ist eine Chance und ein Risiko zugleich.
 
Man könnte die eingangs gepostete Szene auch ausformulieren, so dass dem Leser kein Interpretationsspielraum gegeben wird.

Eure Gedanken und Meinungen zum Erzählen würden mich interessieren. Möchtet ihr möglichst stark kontrollieren, wie Leser Euren Text verstehen bzw. interpretieren? Das würde dann eine Erzählweise erfordern, die dem Leser viel mitteilt und erklärt. Oder lasst Ihr einen größeren Interpretationsspielraum zu? Auch auf die Gefahr hin, dass Leser Euren Text anders als von Euch gedacht oder vielleicht auch gar nicht versteht?
Oder den Mittelweg wählen?
Ich muss ehrlich sagen, dass ich mir keine Gedanken darüber mache, ob meine Leser alles verstehen. Ich würde niemals auf die Idee kommen, meine Texte derart tiefgründig zu hinterfragen.

Ich mache, wie ich es für richtig halte. Und wer es nicht versteht, hat halt Pech gehabt. Diese Einstellung beruht auf der Tatsache, dass ich in erster Linie mir die Geschichte erzähle. Dass diese später von anderen gelesen wird, ist im ersten Augenblick nicht maßgeblich. Dabei besteht natürlich die Gefahr, etwas nicht aufzuschreiben, weil man es ja vor Augen hat. Da in den Kommentaren zu meinen Geschichten dahingehend kaum bis keine Hinweise gegeben werden, gehe ich davon aus, dass es mir gelingt, die Szenen lückenlos zu beschreiben.

Auch das könnte eine Erklärung dafür sein, warum ich Hunderte von Geschichten schreibe, während andere in gleicher Zeit eine Handvoll zustandebringen. Ich hinterfrage nicht großartig oder zweifle - ich mache fertig und gut ist. Und ob meine Geschichten besser wären oder besser bei den Lesern ankämen, wenn ich jeden Satz zehnmal umdrehen würde - ich glaube es nicht.

swriter
 
Beim ersten Lesen von swriters Beitrag stimmte ich innerlich zu.
Dann ist mir aufgefallen: Ich mache alles anders.

Ich achte darauf, dass ein Leser genau weiß, was ich sagen und zeigen will. Dazu muss ich aber wissen, worauf die Szene hinauslaufen soll.
Je nach Kontext kann die dargestellte Szene in dem Beispiel zu detailverliebt oder zu oberflächlich sein, weil mir der Kontext fehlt.
Ich denke vom Großen ins Kleine und dann ergibt sich die Notwendigkeit der gewählten Worte intuitiv.
 
Dazu muss ich aber wissen, worauf die Szene hinauslaufen soll.

Ich habe mir die Szene in Post #1 heute Morgen aus den Fingern gesogen. Die Geschichte dazu gibt es nicht.

Je nach Kontext kann die dargestellte Szene in dem Beispiel zu detailverliebt oder zu oberflächlich sein, weil mir der Kontext fehlt.
Das finde ich nachvollziehbar. Leider kann ich auf die Schnelle nicht eine ganze Geschichte bringen und meine bisherigen Geschichten enthalten zwar auch Szenen, in denen etwas angedeutet wird, aber bis ich etwas passendes gefunden hätte, da dachte ich, dass eine einzelne Szene es vielleicht auch tut um zu zeigen was ich meine.
 
Eure Gedanken und Meinungen zum Erzählen würden mich interessieren. Möchtet ihr möglichst stark kontrollieren, wie Leser Euren Text verstehen bzw. interpretieren? Das würde dann eine Erzählweise erfordern, die dem Leser viel mitteilt und erklärt. Oder lasst Ihr einen größeren Interpretationsspielraum zu? Auch auf die Gefahr hin, dass Leser Euren Text anders als von Euch gedacht oder vielleicht auch gar nicht versteht?
Oder den Mittelweg wählen?

@Chimkcifettib : Dann hatte ich dich doch nicht ganz verstanden. Deine Frage scheint zu sein, welche Freiheitsgrade man dem Leser zubilligen soll, welche Spielräume bei der Interpretation. So ein bisschen in die Richtung des Satzes, ein Text sei eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen. Ich komme eher aus der Ecke: Ich weiß genau, was der Leser daraus machen soll - nur, wie weit überlasse ich es ihm, die Absicht zu erkennen? Gängele ich ihn, lege ich alles fest, oder deute ich nur an, mit dem Risiko, dass dem Leser etwas entgeht, dass ich hineingelegt habe? Das ist nicht ganz das Gleiche.

@swriter: Ich glaube, du hast einfach einen anderen Fokus, eine andere Art zu erzählen. Deine Geschichten sind sehr direkt, sehr handlungsgetrieben. Da spüre ich hinter jedem Satz die Frage: Und was passiert jetzt?, bzw. wer macht was als nächstes? Das lässt nicht viel Spielraum zu, die Karten liegen auf dem Tisch. Bei anderen liegt der Fokus auf dem Aufbau einer Stimmung, auf dem rein Emotionalem. Da wird eher angedeutet, bleibt mal etwas offen. Wobei ich das vollkommen wertungsfrei meine, das eine ist nicht besser als das andere, es ist nur anders.

@_Faith_ : Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich dich verstehe, wenn du meinst, du musst wissen, worauf die Szene hinauslaufen soll. Ich kenne das Phänomen, dass man sich über die nächste Szene im unklaren ist, nicht weiß, was genau man sagen will, einfach mal weiter schreibt, und sich in irrelevanten Details verliert. So etwas?
 
Alternative Version zur Szene (zum Beispiel) Post #1:

Max betrat den Besprechungsraum und seufzte innerlich. Die Besprechung würde wieder endlos dauern. Peter würde wie immer kein Ende finden und sich in seinen Gedankengängen verirren. Martin würde wie ein Papagei nachplappern, was der Abteilungsleiter…

„Guten Morgen Max!“ grüßte Holger.

Max nickte ihm zu und starrte trübsinnig in den grauen Novembertag.

„Boah, was für eine Luft! Zum Schneiden dick!“ meinte Holger und riss ein Fenster nach dem anderen auf.

Langsam füllte sich der Besprechungsraum. Anne quetschte sich an den Kollegen vorbei und setzte sich neben Max. Der Raum war inzwischen merklich kühler geworden.

„Langsam wird es ungemütlich frisch!“ sagte sie und griff dankbar nach der Kaffetasse, die Louise ihr hingestellt hatte.

Holger, der ihnen gegenüber auf seinem Stuhl lümmelte, dachte gar nicht daran die Fenster hinter ihm zuzumachen. Frech grinste er erst Anne und dann Max an.

„Du mich auch!“ murmelte Anne kaum hörbar. Sie musste keine große Fantasie haben um sich vorzustellen, was Holger dachte.

Christoph hatte gehört, was Anne gesagt hatte und stand auf um die Fenster zu schließen. Er verstand nicht warum Holger, der die Fenster direkt in seinem Rücken hatte, es nicht tat.

Max hätte gerne noch etwas länger die kalte feuchte Luft eingeatmet. Sie brannte beinahe in den Lungen und vertrieb die bleierne Müdigkeit, die ihm seit Tagen zusetzte. Aber Christoph war schneller gewesen.

„Du musst nicht gleich springen, wenn Anne mit dem Finger schnippt!“ sagte Holger. Seine durchdringende Stimme unterbrach für einen Augenblick alle Gespräche.

Christoph spürte wie er rot wurde. Er hasste das. Holger hatte es mal wieder geschafft ihn wie einen Trottel aussehen zu lassen.

„Christoph, möchtest Du auch einen Kaffee?“

Max lächelte. Auf Louise war Verlass. Wann immer jemand stichelte, motzte oder schlechte Laune verbreitete, rettete Louise die Situation. Notfalls mit einer Tasse Kaffee, die Christoph dankend annahm. Die Röte an seinem Hals und den Wangen ließ langsam nach.
 
Last edited:
@_Faith_ : Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich dich verstehe, wenn du meinst, du musst wissen, worauf die Szene hinauslaufen soll. Ich kenne das Phänomen, dass man sich über die nächste Szene im unklaren ist, nicht weiß, was genau man sagen will, einfach mal weiter schreibt, und sich in irrelevanten Details verliert. So etwas?
Genau das Gegenteil.
Ich weiß, worauf eine Szene hinausläuft und dementsprechend weiß ich, wie ich diese Szene erzählen muss.
Wenn ich nicht weiß, worauf die Szene hinauslaufen soll, schreibe ich nicht.
Wenn ich eine Szene geschrieben habe und den Eindruck bekomme, sie zeigt nicht das, was ich meine oder wie ich es meine, schleife ich den Text, bis es passt.
Aber ich habe immer vor Augen, was es werden soll.

Bei der Beispielszene in Post #1 und #17 weiß ich nicht, worauf das hinauslaufen soll. (Wo kommen wir her, wo gehen wir hin und was ziehen wir dazu an?)
Momentan ist mir jedes Wort zu viel und weitere 100 Varianten würden mich kein Stück näher daran bringen, einen Vorschlag zu machen oder eine Einschätzung abgeben zu können.
 
@Chimkcifettib : Okay, der Unterschied ist, du legst die Karten auf den Tisch, reduzierst mögliche Interpreationsspielräume auf Null, in dem du alles, was zuerst nur angedeutet war, erklärst und ausbreitest. Aber die Frage bleibt: Worauf willst du hinaus? Willst du in Post Nr. 1 bewusst etwas offen lassen? Ob Anne wirklich friert, oder warum die Leute wie handeln? Oder ist dir selbst als Autor alles klar - ja, Anne friert, und sie fühlt sich von Holger provoziert, und Christoph und Holger mögen sich nicht, und es geht nur darum, wie stark du das dem Leser deutlich machst? Geht es darum, dass du als Autor gern darauf verzichtest, die eine Wahrheit zu kennen, Alternative Interpretationen zulassen willst? Oder nur darum, wie weit du den Leser auf die eine Wahrheit hinlenkst?

So oder so, Variante eins finde ich rein intuitiv um Längen besser. Kompakter, bei mehr Tiefe.
 
Bei der Beispielszene in Post #1 und #17 weiß ich nicht, worauf das hinauslaufen soll. (Wo kommen wir her, wo gehen wir hin und was ziehen wir dazu an?)
Momentan ist mir jedes Wort zu viel und weitere 100 Varianten würden mich kein Stück näher daran bringen, einen Vorschlag zu machen oder eine Einschätzung abgeben zu können.

Wenn Du mit dem Beispiel in #1 und #17 nichts anfangen kannst, weil Dir die ganze Geschichte, d.h. der Kontext fehlt, dann lass doch das Beispiel bei Seite.

Edit: Sorry, das hört sich etwas harsch an. Ich meinte nur, dass wir nicht unbedingt bei dem Beispiel bleiben müssen. Vielleicht gibt’s bessere Beispiele.
 
Genau das Gegenteil.
Ich weiß, worauf eine Szene hinausläuft und dementsprechend weiß ich, wie ich diese Szene erzählen muss.
Wenn ich nicht weiß, worauf die Szene hinauslaufen soll, schreibe ich nicht.
Wenn ich eine Szene geschrieben habe und den Eindruck bekomme, sie zeigt nicht das, was ich meine oder wie ich es meine, schleife ich den Text, bis es passt.
Aber ich habe immer vor Augen, was es werden soll.

@_Faith_ : Das macht mich direkt neidisch. Ich habe beim schreiben das große Ganze im Blick, aber nicht jeden Schritt bis ins Ziel. Da komme ich schon mal auf Abwege, und dann wird der Text zum Selbstzweck. Und gerät außer Form.

Was wieder das Beispiel angeht: Ich brauche keinen Kontext, um den Text von Chimkcifettib einzuordnen: Es geht ja nicht um weitere Hintergründe, nur um Spielräume bei der Interpretation.
 
Okay, der Unterschied ist, du legst die Karten auf den Tisch, reduzierst mögliche Interpreationsspielräume auf Null, in dem du alles, was zuerst nur angedeutet war, erklärst und ausbreitest.

Genau das wollte ich mit dem Beispiel in #1 und der Variante in #17 zeigen.

Willst du in Post Nr. 1 bewusst etwas offen lassen? Ob Anne wirklich friert, oder warum die Leute wie handeln? Oder ist dir selbst als Autor alles klar - ja, Anne friert, und sie fühlt sich von Holger provoziert, und Christoph und Holger mögen sich nicht, und es geht nur darum, wie stark du das dem Leser deutlich machst? Geht es darum, dass du als Autor gern darauf verzichtest, die eine Wahrheit zu kennen, Alternative Interpretationen zulassen willst? Oder nur darum, wie weit du den Leser auf die eine Wahrheit hinlenkst?
Manchmal ist es so, dass ich mir selbst mehrere Optionen offen lassen möchte. Meistens ist es aber so, dass ich die Wahrheit kenne, d.h. definiert habe, aber sie nicht in aller Deutlichkeit formuliere, um dem Leser einen Interpretationsspielraum zu lassen.
 
Es geht ja nicht um weitere Hintergründe, nur um Spielräume bei der Interpretation.
Doch es geht um die Hintergründe, daraus ergeben sich die Spielräume. Je nach Kontext wähle ich sehr bewusst, wie viel Spielraum ich dem Leser lasse oder wo ich den Fokus setze.

Wie bereits in meinem Post #7 gefragt:
- Passiert gleich ein Mord?
Dann würde ich die sich aufschaukelnden Mikroaggressionen deutlich hervorheben, damit jeder kapiert: hier knallt es gleich.

- Ist es die Vorbesprechung zu einem Gang-Bang?
Dann können die Interaktionen eher im Vagen bleiben, um lediglich zu zeigen: Alle kennen sich und es gibt nichts, was ein Pott Kaffee nicht wieder ins Lot bringt.

- Oder hat Max nachher seinen ersten Termin, um über seine Depressionen zu sprechen?
Dann würde ich ihn als misanthropischen Beobachter hervorheben, der von den zwischenmenschlichen Details seiner KollegInnen nur noch mehr abgefuckt wird, ganz gleich, wie der Leser die Szene bewertet.


Anbei mal ein Beispiel aus einer meiner Geschichten, bei dem ich den Leser an einer sehr kurzen Leine führe, um ihn hinters Licht zu führen:
Sie saß hinter dem Lenkrad eines 2014er Ferrari F12 und drückte dem Autoverkäufer, der auf dem Beifahrersitz saß, die Hand auf den Mund.
Er schaute sie mit weit aufgerissen Augen an während sie ruhig zu ihm sprach: »Wenn sie jetzt rumzappeln oder sonst irgendwie die Nerven verlieren, gibt das hier eine riesen Sauerei.«

In seinen Augen spiegelte sich die nackte Panik. Was war das nur für eine Frau?

»Sie wollen das teure Auto doch nicht einsauen?«, fragte sie mit Nachdruck. Er schüttelte den Kopf. Miriams Hand auf seinem Mund folgte den Bewegungen.
»Heben sie die Hände hoch, damit ich sie sehen kann«, sagte Miriam so höflich, dass es wie eine Bitte klang. Er hob die geöffneten Handflächen auf Augenhöhe. Seine Atmung ging flach und stoßweise.
»Gut«, sagte Miriam und zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter, auf das fahrerseitige Türfenster, »Die Jungs da draußen sind vielleicht nicht so einsichtig wie sie. Ich kümmere mich darum und was machen sie solange?«

»Nichts«, presste er durch schmalen Lippen.

»Richtig«, sagte Miriam und schenkte ihm das wertschätzende Lächeln, das ein kleiner Junger von seine Lehrerin erwarten konnte, wenn er etwas besonders gut gemacht hatte.
Der Autoverkäufer beobachtete sie mit erhobenen Händen und fragte sich, wie es so weit kommen konnte.
 
Doch es geht um die Hintergründe, daraus ergeben sich die Spielräume. Je nach Kontext wähle ich sehr bewusst, wie viel Spielraum ich dem Leser lasse oder wo ich den Fokus setze.
Das ist logisch und ich sehe das genauso. Das Beispiel in #1 und die Variante #17 hatten aber nur den Zweck um den Interpretationsspielraum zu zeigen, der im Beispiel in #1 gegeben ist und in #17 nicht.

Natürlich ist es sinnvoll die Größe des Interpretationsspielraums (oder ob er überhaupt vorhanden ist) und was interpretiert werden kann davon abhängig zu machen was erzählt werden soll. Ich glaube nicht, dass das hier irgend jemand bestreitet.
 
Das ist logisch und ich sehe das genauso. Das Beispiel in #1 und die Variante #17 hatten aber nur den Zweck um den Interpretationsspielraum zu zeigen, der im Beispiel in #1 gegeben ist und in #17 nicht.

Natürlich ist es sinnvoll die Größe des Interpretationsspielraums (oder ob er überhaupt vorhanden ist) und was interpretiert werden kann davon abhängig zu machen was erzählt werden soll. Ich glaube nicht, dass das hier irgend jemand bestreitet.
Natürlich passt jeder gute Autor seine Texte irgendwie an seine Leser an - vielleicht auch unbewusst. Eine erotische Geschichte hier erfordert andere Ansprüche als ein Widerspruch ans Finanzamt oder ein Liebesbrief. Und auch innerhalb einer Story kann ich die Ebenen wechseln. Vielleicht fange ich mit etwas mehr „Erklärbär-Stil“ an, um möglichst viele Leser einzufangen. Wenn ich irgendwann das Gefühl habe, die Geschichte läuft ( auch aufgrund von Kommentaren und Bewertungen) kann ich mehr Dinge nur andeuten.
 
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