Storydiskussions-Thread zu 'Blind Date'

Kojote

dead serious lunatic
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Jan 31, 2010
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Wie in meinem an Holly gerichteten Kommentar erwähnt gibt es einen Punkt, den ich im Kommentarbereich eigentlich ungern diskutieren will.
Es ist etwas, dass ein wenig tiefer in der Story vergraben liegt. Scheint es zumindest. Im Grunde habe ich es durchaus offen in Worte gefasst.

Für alle, die sich entweder die Geschichte noch ansehen wollen oder die ihren Eindruck davon bewahren wollen, gilt nun also eine Spoilerwarnung.
Meiner Einschätzung nach könnte sich das Bild von der Geschichte durchaus nachhaltig verändern, wenn man auf diese Sache nicht von allein gekommen ist.










Nun zur Sache:
Es geht um den Satz: Ich war zwanzig, jung und dumm.
Er zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Und ich habe an unterschiedlichen Orten genau für diese Bemerkung in der Geschichte Kritik erhalten.
Manche fanden sie ein wenig zu häufig platziert. Manche hat das sehr gestört. Andere ein wenig. Und wieder andere finden, es stört die Atmosphäre der Geschichte an sich, indem es einen Widerspruch zum Tenor erzeugt, wie der geschätzte Dr. Wordup.

Tatsächlich ist der Satz aber in meinen Augen der eigentliche Knackpunkt der Geschichte.
Er ist ein Paradoxon, weil ich versuche nahezulegen, dass ich als Erzähler möglicherweise nicht mehr zwanzig und jung bin, aber vielleicht noch immer so dumm. Oder vielleicht auch nie ganz dumm war?

Der Kernpunkt, um den es mir geht, liegt in folgendem Absatz nicht weit vom Ende:
Ich verstand, weswegen sie ihre Meinung geändert hatte. Und ich muss zugeben, dass ich mich selbst ein wenig dafür hasste, dass sie recht hatte. Aber der Schatten des Zweifels war da.

Die Auflösung dieses Gedankengangs kommt am Ende aus Hannah's Mund:
(Auszugsweise)
„Fühl dich wie Zuhause, aber geh bitte, wenn du fertig bist. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass du... mich ansiehst und... es nicht erträgst. Dass du fortläufst wie die anderen. Oder schlimmer noch: Dass du bleibst, weil du glaubst, du würdest mir etwas schulden.

Geh bitte und lass mir die Erinnerung an ein perfektes Date. An ein perfektes Blind Date. Ich werde sie mit ins Grab nehmen.

[...]

„Ich wünschte, es wäre anders", fuhr sie schließlich stockend fort. „Ich wünschte, es könnte wahr sein, dass es keine Rolle für die Sehenden spielt, was sie sehen. Aber wir wissen beide, dass es nicht so ist.

Also lass mir die wunderbare Erinnerung. Unverdorben von einer zweiten Begegnung, bei der all das Gute sich in Schlechtes verwandeln würde.


Aus meiner Sicht ist der Schlüsselsatz und Stein des Anstoßes in dieser Geschichte die Gretchenfrage.
Klar liegt die offensichtliche Implikation auf der Hand: Ja. Der Bursche ist jung, unerfahren und glaubt nicht an die Macht der Liebe. Er ist ein Dummkopf.

Aber ist er das?
Kann jemand das ermessen, bevor er oder sie sich intellektuell in ein Verliebtheitsgefühl versetzt hat und nun der Realität gegenübersteht, die ein womöglich unschönes Haupt erhebt?
Sich Äußerlichkeiten gegenstandslos, wenn es um Wahre Liebe geht? Oder spielen sie sehr wohl eine Rolle?
Können sie womöglich sogar zu viel für das Gefühl der Liebe sein...? Es verderben und zerstören?

Meine Absicht war, diese Frage in den Kopf des Lesers zu pflanzen, indem ich ihm eine Antwort präsentiere.
Eine Antwort, der man zustimmen kann. Oder man kann sie ablehnen. So oder so beschäftigt man sich aber dadurch mit der Frage, die ich eben nicht offen gestellt habe.

Und ohne mich über den Klee loben zu wollen: Wenn ich mir so manches Feedback ansehe, ist mir diese Absicht durchaus gelungen.

Der Grund für meine Überlegung, ob und inwiefern ich wirklich glücklich mit dem Gesamtkonstrukt bin, stellt sich in erster Linie, weil mir anders Feedback auch zeigt, wie viele Leute sich lieber nicht mit der Frage auseinandersetzen wollen.
Was ich durchaus verstehe und nachvollziehbar finde.

Meine Interpretation gewisser Reaktionen ist: Manche Leute mögen es eher nicht, in dieses spezielle Medusenhaupt zu blicken.
Ist es gut, es ihnen sozusagen zwangsweise vor die Nase zu halten?
In einem Umfeld, wo man durchaus nicht mit so 'schwerer Kost' rechnen muss.
Ist das nicht eher eine Thematik für speziellere Leserschaft?


Soweit jetzt einfach mal in den Raum geworfen meine unmittelbaren Gedanken zum Thema.
Man möge mir sagen, was ich weiter elaborieren soll. Und ich erhebe nicht den Anspruch, alles perfekt erklärt - oder was das angeht in de Geschichte perfekt umgesetzt - zu haben.
 
Aber ist er das?
Kann jemand das ermessen, bevor er oder sie sich intellektuell in ein Verliebtheitsgefühl versetzt hat und nun der Realität gegenübersteht, die ein womöglich unschönes Haupt erhebt?
Sich Äußerlichkeiten gegenstandslos, wenn es um Wahre Liebe geht? Oder spielen sie sehr wohl eine Rolle?
Können sie womöglich sogar zu viel für das Gefühl der Liebe sein...? Es verderben und zerstören?

Ich kann jetzt nur sagen wie ich es interpretiert habe:

Nein, ein Dummkopf ist er nicht. Er sah die "körperlichen Mängel", ja.
Aber zuerst hatte er ihre Seele kennen gelernt - und ist ja gerade deswegen! erst zu ihr gefahren.
Und ich sah es so, das sie ihn so stark verunsichert hat, das er daraufhin doch gegangen ist. Wegen der Zweifel, die sie erst in ihm gesät hat.

Und unterstelle ihm, das er heute die Weisheit hat/hätte zu bleiben. Denn: was nützt dir der schönste Körper, wenn die Seele nur aus (sorry für das harte Wort:) Scheiße besteht? Sehe es so, das Charakter einfach das wichtigste überhaupt ist.

Hand aufs Herz:
Wer bzw. wessen Partner ist schon optisch "perfekt"? Also wirklich 100% so, wie man es sich wünschen würde, wenn man die Wahl hätte???
Ich nicht und mein Partner auch nicht!
 
Aus meiner Sicht ist der Schlüsselsatz und Stein des Anstoßes in dieser Geschichte die Gretchenfrage.
Klar liegt die offensichtliche Implikation auf der Hand: Ja. Der Bursche ist jung, unerfahren und glaubt nicht an die Macht der Liebe. Er ist ein Dummkopf.

Aber ist er das?
Kann jemand das ermessen, bevor er oder sie sich intellektuell in ein Verliebtheitsgefühl versetzt hat und nun der Realität gegenübersteht, die ein womöglich unschönes Haupt erhebt?
Sich Äußerlichkeiten gegenstandslos, wenn es um Wahre Liebe geht? Oder spielen sie sehr wohl eine Rolle?
Können sie womöglich sogar zu viel für das Gefühl der Liebe sein...? Es verderben und zerstören?

Meine Absicht war, diese Frage in den Kopf des Lesers zu pflanzen, indem ich ihm eine Antwort präsentiere.
Eine Antwort, der man zustimmen kann. Oder man kann sie ablehnen. So oder so beschäftigt man sich aber dadurch mit der Frage, die ich eben nicht offen gestellt habe.

Also ich hab mir die Geschichte mal durchgelesen, und ich muss sagen: genau das hat mich auch gestört.

Nicht der Satz an sich, sondern dass er ein wenig im Raum stehen lässt, was der Erzähler jetzt anders machen würde. Ob er verliebt war oder nicht, wann er es war und wann er eher peinlich berührt war. Da Liebe an sich eine ziemliche Gefühlssache ist, kann ich das auch nur schwer mit dem Wort "Dummkopf" in Einklang bringen. Liebe ist keine Frage der Intelligenz.

Sind Äußerlichkeiten gegenstandslos, wenn es um wahre Liebe geht? Jein. Äusserlichkeiten müssen nicht zwangsläufig was mit Schönheit zu tun haben. In meinen Augen liegt in der Konzentration auf die Äusserlichkeit der Hauptirrtum, wenn es um Liebe geht. Man könnte den "Dummkopf" in diesem Zusammenhang bringen, aber davon sieht der Erzähler ab.

Ich hab weder die besagte Frage noch die präsentierte Antwort so richtig erkennen können, und wenn ich mal ehrlich sein soll: ich fände eine derartige Absicht auch etwas oberlehrerhaft. Sie dann auch noch zwischen den Zeilen zu verstecken - mir fällt es da wirklich langsam schwer, nicht wieder über den verkrampften Deutschen zu schimpfen, den ich so hassen gelernt habe.

Die ganze Geschichte wäre ohne dieses Leherhafte, welches einen ständig daran erinnert, dass man als junger Mann nichts ist, weil man nichts weiss, eine schöne Geschichte, wo man mit dem Protagonisten mitfühlt, mitzittert, die Aufs und Abs des eigenen Schamgefühls miterlebt. Denn sein wir mal ehrlich: der Protagonist macht nichts dummes, nichts peinliches, und ich find sogar, er kommt mit der Situation ganz gut zurecht, und das Ende ist dann offen, traurig, und man fragt sich ein bisschen, ob man in der Situation genauso gehandelt hätte.

Doch die Stimme sagt nur "Mann, warst du dumm damals.....". Ein paar Worte umgeändert, und man hätte das Gefühl, Pappa guckt Sohn bei der Liebe zu und gibt dabei hämische Kommentare ab.....

Is nich böse gemeint, aber das ist mir halt so aufgefallen.....
 
"Liebe ist keine Frage der Intelligenz", sagt "Popping Tom" richtig in seinem letzten Posting 3.

Was den Satz, der hier den Stein des Anstosses bildet ("Ich war jung, dumm...") betrifft:
Man muss 2 Dinge auseinanderhalten:
a) Die Person, die die männliche HP zum Zeitpunkt der Beziehung mit Hannah war
b) Die Person, die der Erzähler heute ist.

Er erzählt es aus der Rückschau- und Erinnerung trügt bekanntlich.
Wie erinnern nie 1:1. Das ist nicht möglich, wie die Neuropsychologie schon längst gezeigt hat.
Unser Erinnern ist immer auch zu einem grossen Teil Interpretation.

"Man kann alles erzählen, nur nicht sein eigenes Leben", hat MAX FRISCH diesen wichtigen Umstand schon in Worte gefasst, lange vor den Erkenntnissen der modernen Neurobiologie.

Der Satz "ich war jung, dumm..." kommt vielleicht etwas zu häufig vor, sodass er auf manche wie eine nachträgliche publizistische Reue wirken könnte.
Sodass tatsächlich das Gefühl aufkommen könnte, die männliche HP wollte sich für etwas entschuldigen/rechtfertigen.
Will sagen: Diesen Eindruck kann man bekommen. Man muss ihn nicht bekommen.
Insofern ist die Kritik von "Dr. Wordup" nicht ganz unberechtigt.

Das Schlimmste im erzählerischen Bereich ist "moralische Rechtfertigungsliteratur"- die wirkt immer so bedeutungsschwanger.
Dieser Klippe entgeht "Kojote" in "Blind Date", auch wenn der "Ich jung, dumm..."-Satz" vielleicht etwas zu häufig vorkommt.
Etwas weniger wäre da mehr; im Sinne von "wirkungsvoller"; gewesen.

Meines Erachtens ist der Kern der Story doch folgender: Wie lebt man mit jemandem, der ein Handicap hat? Reicht die Liebe auf Dauer aus für die Anfeindungen, denen man als Paar in Zukunft wohl ausgesetzt ist???
Am Anfang sagt man im Überschwang der Gefühle im Brustton der Überzeugung: "Ja!"- Und dann kommt die Realität.

Statt Hannahs Blindheit könnte man auch ne Partnerin mit dunkler Hautfarbe nehmen, und die Geschichte würde ebenso gut funktionieren.

Ob die männliche HP es heute anders machen würde? Ob sie sich heute anders entscheiden würde als damals?
Das bleibt eine Hypothese. Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann.

Was möglich bleibt, ist, eine prägende Episode aus dem Leben der männlichen HP zu erzählen, und das ist prima gelungen.

Ach, ich warne davor, Stories zu autobiografisch aufzufassen und zu interpretieren, auch, wenn sie so wirken, auch, wenn sie autobiografisch erzählt sind.
Die Frage, wie sehr autobiografisch "Blind Date" ist, ist von untergeordneter Bedeutung.
Entscheidend ist, dass sie plausibel ist, dass sie als Story funktioniert.
Und das tut sie.
 
Last edited:
Ich freue mich über diese Blickwinkel. Das sage ich ganz ehrlich.
Wie Holly die Geschichte aufgefasst hat, habe ich mir gedacht.
Den Gegenpol dazu bildet gewissermaßen Tom. Und auch seine Sichtweise verstehe ich.

Das ist der Knackpunkt, um den es mir in dieser Diskussion geht, Tom:
Auf der einen Seite sind da Leute, die es nicht oberlehrerhaft fanden. So war es - nebenbei bemerkt - auch nicht gemeint. Die Geschichte war nicht durchgeplant und auf ihre Wirkung gestyled. Sie ist introspektiv. Zumindest von der Intention her.
Aber ich bin nicht blind für das, was sich aus Kommentaren und Feedback als Bild der Wirkung ergibt. Und da hat sich mir eben diese Frage gestellt.

Dadurch, dass ich diese Diskussion anrege, ergibt sich für mich die Möglichkeit, der Frage nachzugehen, wie ich in Zukunft mit solchen Dingen umgehen will.
Und da ich nicht bewusst jedes Wort meiner Geschichten auf die Goldwaage lege, sondern eigentlich immer aus dem Gefühl heraus schreibe, brauche ich diese rückwirkende Betrachtung.
So kann ich mein Gefühl dafür einer Prüfung unterziehen und es modifizieren, sodass ich beim nächsten Mal eben ohne lange Überlegung und aus dem Bauch heraus etwas anders mache. Oder eben doch genau so...

Ergibt das einen Sinn für dich?
 
Keine Frage, kojote, ich denke auch, dass du das aus dem Bauch heraus so geschrieben hast.

Ich denke, es gibt verschiedene Ansätze, eine Geschichte - auch eine selbst erlebte - zu erzählen. Manche gehen richtig tief in ihre Figuren hinein, versuchen, nicht nur die Gefühle, sondern auch die Philosophie hinter diesem derzeitigen Gefühlsbild aufzuzeigen. Ich nenne das jetzt mal Ego-Perspektive. Das ist allerdings die hohe Kunst der Erzählung. Manche lassen den Protagonisten auch aussen vor und zeigen nur sein Erlebtes. Ich nenne das jetzt mal Gesamtperspektive. Manche hingegen bewahren sich einen kleinen Abstand zum Protagonisten, und beobachten ihn, wie man ein Tier beobachtet. Das nennen wir mal Dritte-Person-Perspektive.

Das Problem bei deiner Erzählweise sehe ich darin, dass du letzteres machst, aber, wie ich glaube, eigentlich ersteres willst. Auf der einen Seite gibst du dir redlich Mühe, zwischen Erzähler und Protagonisten Unterschiede zu schaffen, auf der anderen strebst du ihre Verschmelzung an. Ich glaube nicht, dass das klappen kann, und selbst wenn, dann glaube ich nicht, dasss es ratsam wäre. Denn es erschwert die Identifikation. Solange die Geschichte nicht in Gesamtperspektive gehalten ist - was sie wegen ihrer Wertungslosigkeit auch recht langweilig machen kann - ist der Leser geneigt, sich mit etwas zu identifizieren, oder jemanden zu folgen. Entweder dem Erzähler oder dem Protagonisten. Das tut er selbst dann, wenn, wie in deinem Fall, beides eigentlich eine Person sind. Für den Leser sind sie es nicht, werden sie es nie sein, da es einfach der Perspektive widerspricht.

Und das wäre dann mein Kritikpunkt: Der Erzähler hemmt mir in diesem Mischmasch aus Ego- und Dritte-Person-Perspektive etwas zu sehr meine Identifikation mit dem Protagonisten. Er hat zuwenig Abstand, und zuwenig Eigencharakter.

Ergibt das einen Sinn für dich?
 
Last edited:
Ergibt das einen Sinn für dich?

Ich bin nicht ganz sicher.
Meinst du den Abstand, der durch den Eindruck entsteht, ich würde ein vergangenes Ereignis wiedergeben?

Oder meinst du etwas, was tiefer in meinem Stil verborgen liegt. Was sich ebenfalls durch andere meiner Geschichten zieht?
Im letzterem Fall wäre ich dir dankbar, wenn du mir das detaillierter aufzeigen könntest, weil ich das dann eher nicht wahrzunehmen scheine.

In ersterem Fall verstehe ich dich besser. Und betrachte es dennoch zwiespältig.
Ja. Ich hätte unmittelbar vorgehen können. Ohne Wertung und retrospektiven Eindruck. Aber ich wollte scheinbar nicht (und hatte damit vielleicht durchaus unbewusst die Neigung, den Oberlehrer raushängen zu lassen - ich will das nicht ausschließen).

Mhm... Wenn du Zeit und Lust hast, dann achte doch mal auf meine neueste Geschichte, die in Kürze durch die Überprüfung sein müsste. Ich hoffe sehr, da dann wirklich mehr die Ego-Perspektive (wie du sie beschreibst) verwendet zu haben.
 
Was ist das hier ? Der Selbstbeweihräucherungsthread von Kojote? Scheinst einen kleinen Höhenflug zu haben. Bist ja schon wie rosette.
Womit der anonyme Mailschreiber, dem ich ganz in der Nähe so offen geantwortet habe, auch schon einen Namenskandidaten hätte.
Nicht, dass mich das nun sonderlich überraschen würde... :rolleyes:
 
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