Erpan
Literotica Guru
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Zitat aus der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juni 2010:
Mitte der 1990er-Jahre begann Susan Clancy von der Harvard Universität Menschen zu interviewen, die als Kinder sexuell missbraucht worden waren. Die Psychologin sprach mit Hunderten Opfern. Was sie entdeckte, widersprach ihrer Erwartung: Die Meinung in Fachkreisen war zuvor, dass die Erfahrungen fast immer traumatisch seien und gegen den Willen des Kindes stattgefunden hätten.
Die zentrale Aussage ihrer Forschung: Missbrauch ist in der Regel nicht dann traumatisierend, wenn er stattfindet, sondern führt oft erst später zu psychischen Problemen. Ihr jüngst erschienenes Buch "The Trauma Myth" (Basic Books, 2010) hat in den USA eine intensive Debatte ausgelöst. Die New York Times und das Fachblatt Science lobten das Buch, etliche Leser reagierten empört. Im Gespräch erklärt die Psychologin, inzwischen Direktorin des mit Harvard assoziierten "Center for Women's Advancement, Development and Leadership" in Nicaragua, ihre Befunde.
Hier nun Auszüge aus dem Interview:
SZ: Auf der Amazon-Webseite Ihres Buches, "The Trauma Myth", schreibt ein Leser, dass Sie Sexualstraftätern zurufen: "Nur zu, missbraucht Kinder, sie mögen es, es wird sie nicht traumatisieren."
Susan Clancy: Das erzeugt in mir nur Brechreiz. Ich habe so etwas nie geschrieben, geschweige denn nahegelegt.
SZ: Wie kommt er auf die Idee? Auch Psychotherapeuten und Psychiater haben Sie seit Veröffentlichung Ihres Buches heftig angegriffen.
Clancy: Wer behauptet, dass ich sexuellen Missbrauch von Kindern verharmlose, hat mein Buch nicht gelesen. Es ist ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Aber das Thema ist hoch emotional besetzt, sodass jeder Versuch, an einer Lehrmeinung zu rütteln, wie ein Sakrileg wirkt. Ich könnte Bände mit hasserfüllten E-Mails füllen, aber zum Glück auch mit dankbaren Briefen von Opfern.
SZ: Wo liegt in Ihren Augen das Problem?
Clancy: Das vorherrschende Verständnis in Fachkreisen ist geprägt von einer bestimmten Form des sexuellen Missbrauchs, den vor allem Psychologen und Psychiater zu sehen bekommen: Menschen, für die der Missbrauch mit Gewalt, körperlichen Schmerzen, Penetration, Drohungen und Schrecken einherging. Aber diese Fälle repräsentieren nur fünf Prozent allen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Wollen wir dieses Übel bekämpfen, müssen wir verstehen, wie all die anderen zu Opfern werden.
[…]
SZ: Was fühlen diese Kinder?
Clancy: Sie fühlen sich im Stich gelassen. Schlimmer: Weil viele den Missbrauch nicht als traumatisch erlebt haben, halten sie sich für schuldig, weil sie meinen, es zugelassen zu haben. Viele Menschen sagten zu mir: "Ich weiß nicht, ob ich mich für Ihre Studie eigne, weil ich es damals als nicht traumatisch empfand." Wir müssen diesen Opfern klar machen, dass sie keine Ausnahme sind.
SZ: Das klingt so, als wäre alles nur halb so schlimm.
Clancy: Jetzt mal halblang. Sexueller Missbrauch kann schwere psychische Schäden nach sich ziehen. Das tritt für die Meisten erst ein, wenn sie in der Lage sind, die Bedeutung des Vorgefallenen zu verstehen - also als Erwachsene. Dann empfinden viele Verrat, Schuld und Scham. Es kann ihr Selbstwertgefühl verändern, zu Albträumen, Problemen mit Intimität, Alkohol- und Drogenkonsum, Selbstverstümmelung oder Essstörungen führen. Der Missbrauch wirkt also meist verzögert und indirekt.
[…]
SZ: Wenn Sie recht haben, wie erklärt sich die vorherrschende Meinung?
Clancy: Bis in die 1970er-Jahre hielt man sexuellen Missbrauch für selten. Man dachte gar, manche Kinder hätten Missbrauch durch ihr Verhalten provoziert. Dem wollten Feministinnen und andere eine neue Sicht entgegensetzen. Das gelang mit der Gleichsetzung des sexuellen Missbrauchs mit Vergehen wie Vergewaltigung. Hinzu kam, dass nach dem Vietnam-Krieg Trauma-Forschung stark gefördert würde. Das alles hat geholfen, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Aber damit stand plötzlich ein kleiner Teil der sexuellen Missbrauchsfälle für das Ganze.
[…]
SZ: Werden Sie weiter über sexuellen Missbrauch arbeiten?
Clancy: Nein. Es hat mir zu viel Kummer, Ärger und schlaflose Nächte bereitet. Über zehn Jahre habe ich mir das Leid von Missbrauchsopfern angehört. Dann wurde ich von Kollegen attackiert. Jetzt habe ich ein Buch veröffentlicht, das in Science und der New York Times hoch gelobt wird - aber keine echte Debatte, geschweige denn ein Umdenken ausgelöst hat. Niemand will wissen, was sexueller Missbrauch wirklich ist - das Thema regt die Menschen zu sehr auf.
Die Datenmenge ist enorm und an der wissenschaftlichen Methode, die Clancy anwandte, gibt es keine Zweifel. Trotzdem wird Susan Clany angefeindet. Nicht nur von wissenschaftlichen Laien, was irgendwie zu verstehen wäre, sondern auch oder vor allen von Kollegen. Weil ihre Erkenntnisse über Bord werfen, was Jahrzehnte wissenschaftlicher Konsens war?
Würde mich interessieren, was ihr darüber denkt.
Mitte der 1990er-Jahre begann Susan Clancy von der Harvard Universität Menschen zu interviewen, die als Kinder sexuell missbraucht worden waren. Die Psychologin sprach mit Hunderten Opfern. Was sie entdeckte, widersprach ihrer Erwartung: Die Meinung in Fachkreisen war zuvor, dass die Erfahrungen fast immer traumatisch seien und gegen den Willen des Kindes stattgefunden hätten.
Die zentrale Aussage ihrer Forschung: Missbrauch ist in der Regel nicht dann traumatisierend, wenn er stattfindet, sondern führt oft erst später zu psychischen Problemen. Ihr jüngst erschienenes Buch "The Trauma Myth" (Basic Books, 2010) hat in den USA eine intensive Debatte ausgelöst. Die New York Times und das Fachblatt Science lobten das Buch, etliche Leser reagierten empört. Im Gespräch erklärt die Psychologin, inzwischen Direktorin des mit Harvard assoziierten "Center for Women's Advancement, Development and Leadership" in Nicaragua, ihre Befunde.
Hier nun Auszüge aus dem Interview:
SZ: Auf der Amazon-Webseite Ihres Buches, "The Trauma Myth", schreibt ein Leser, dass Sie Sexualstraftätern zurufen: "Nur zu, missbraucht Kinder, sie mögen es, es wird sie nicht traumatisieren."
Susan Clancy: Das erzeugt in mir nur Brechreiz. Ich habe so etwas nie geschrieben, geschweige denn nahegelegt.
SZ: Wie kommt er auf die Idee? Auch Psychotherapeuten und Psychiater haben Sie seit Veröffentlichung Ihres Buches heftig angegriffen.
Clancy: Wer behauptet, dass ich sexuellen Missbrauch von Kindern verharmlose, hat mein Buch nicht gelesen. Es ist ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Aber das Thema ist hoch emotional besetzt, sodass jeder Versuch, an einer Lehrmeinung zu rütteln, wie ein Sakrileg wirkt. Ich könnte Bände mit hasserfüllten E-Mails füllen, aber zum Glück auch mit dankbaren Briefen von Opfern.
SZ: Wo liegt in Ihren Augen das Problem?
Clancy: Das vorherrschende Verständnis in Fachkreisen ist geprägt von einer bestimmten Form des sexuellen Missbrauchs, den vor allem Psychologen und Psychiater zu sehen bekommen: Menschen, für die der Missbrauch mit Gewalt, körperlichen Schmerzen, Penetration, Drohungen und Schrecken einherging. Aber diese Fälle repräsentieren nur fünf Prozent allen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Wollen wir dieses Übel bekämpfen, müssen wir verstehen, wie all die anderen zu Opfern werden.
[…]
SZ: Was fühlen diese Kinder?
Clancy: Sie fühlen sich im Stich gelassen. Schlimmer: Weil viele den Missbrauch nicht als traumatisch erlebt haben, halten sie sich für schuldig, weil sie meinen, es zugelassen zu haben. Viele Menschen sagten zu mir: "Ich weiß nicht, ob ich mich für Ihre Studie eigne, weil ich es damals als nicht traumatisch empfand." Wir müssen diesen Opfern klar machen, dass sie keine Ausnahme sind.
SZ: Das klingt so, als wäre alles nur halb so schlimm.
Clancy: Jetzt mal halblang. Sexueller Missbrauch kann schwere psychische Schäden nach sich ziehen. Das tritt für die Meisten erst ein, wenn sie in der Lage sind, die Bedeutung des Vorgefallenen zu verstehen - also als Erwachsene. Dann empfinden viele Verrat, Schuld und Scham. Es kann ihr Selbstwertgefühl verändern, zu Albträumen, Problemen mit Intimität, Alkohol- und Drogenkonsum, Selbstverstümmelung oder Essstörungen führen. Der Missbrauch wirkt also meist verzögert und indirekt.
[…]
SZ: Wenn Sie recht haben, wie erklärt sich die vorherrschende Meinung?
Clancy: Bis in die 1970er-Jahre hielt man sexuellen Missbrauch für selten. Man dachte gar, manche Kinder hätten Missbrauch durch ihr Verhalten provoziert. Dem wollten Feministinnen und andere eine neue Sicht entgegensetzen. Das gelang mit der Gleichsetzung des sexuellen Missbrauchs mit Vergehen wie Vergewaltigung. Hinzu kam, dass nach dem Vietnam-Krieg Trauma-Forschung stark gefördert würde. Das alles hat geholfen, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Aber damit stand plötzlich ein kleiner Teil der sexuellen Missbrauchsfälle für das Ganze.
[…]
SZ: Werden Sie weiter über sexuellen Missbrauch arbeiten?
Clancy: Nein. Es hat mir zu viel Kummer, Ärger und schlaflose Nächte bereitet. Über zehn Jahre habe ich mir das Leid von Missbrauchsopfern angehört. Dann wurde ich von Kollegen attackiert. Jetzt habe ich ein Buch veröffentlicht, das in Science und der New York Times hoch gelobt wird - aber keine echte Debatte, geschweige denn ein Umdenken ausgelöst hat. Niemand will wissen, was sexueller Missbrauch wirklich ist - das Thema regt die Menschen zu sehr auf.
Die Datenmenge ist enorm und an der wissenschaftlichen Methode, die Clancy anwandte, gibt es keine Zweifel. Trotzdem wird Susan Clany angefeindet. Nicht nur von wissenschaftlichen Laien, was irgendwie zu verstehen wäre, sondern auch oder vor allen von Kollegen. Weil ihre Erkenntnisse über Bord werfen, was Jahrzehnte wissenschaftlicher Konsens war?
Würde mich interessieren, was ihr darüber denkt.
