Ich finde, Du vermischst da einige Dinge. Auf dem Schulhof bei einer Klopperei sollte man, Zivilcourage vorausgesetzt, schon eingreifen. Die Mama, die den Filius am Ohr zieht? Solange es beim Ohrenziehen bleibt, finde ich überhaupt keinen Grund einzugreifen. Komplett ohne jegliche Gewalt geht Kindererziehung nur in den seltensten Fällen, fürchte ich. Die Nachbarn, die laut streiten? Es kommt auf die Häufigkeit an. Eine Freundin von mir hatte regelmäßig mithören müssen, und irgendwann hat sie eben die Polizei gerufen.Gibt es meiner Meinung nach.
So zu tun, als trüge nicht auch die Gesellschaft und damit auch du einen Teil der Mitschuld daran, dass manche Menschen so extreme Störungen entwickeln, dass sie sich an anderen Menschen vergehen, ist Augenwischerei.
Jeder von uns hat schon einmal weggesehen, als er hätte handeln können. Auf dem Schulhof bei einer Klopperei. Im Supermarkt an der Kasse, wenn die Mama ihren Filius am Ohr ziehend ruhigstellt. Oder als die Nachbarn sich so laut gestritten haben, dass man nicht schlafen konnte.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle war ein Eingreifen aus rein psychologischer Sicht auch nicht notwendig. Aber immer wieder sind Situationen dabei, in denen es nicht ein Einzelfall ist, sondern Missbrauch oder Gewalt in irgendeiner Form, die bleibenden Schaden im Kopf des Opfers hinterlässt.
Sicher würde mehr Zivilcourage helfen, Verbrechen zu verhindern. Andererseits haben schon Menschen ihre Courage mit schweren Verletzungen bezahlt. Letztlich muss man die Kirche aber im Dorf lassen. Die fehlende Zivilcourage eines Menschen hätte überhaupt keine Auswirkungen, wenn es die Verbrecher nicht gäbe. Die Ursache sind somit die Verbrecher, nicht die "Zu- und Wegschauer".
Naja. Damit macht man es sich zu einfach. Es impliziert, dass, hätte es Hitler nicht gegeben, ein anderer gekommen wäre. Das möchte ich verneinen. In Deutschland und Österreich wird ja immer gesagt, wenn es Massenarbeitslosigkeit gibt, steigt die Gefahr für radikale Regime. Tatsache ist aber, dass in den 30ern trotz Weltwirtschaftskrise nur in den wenigsten Staaten radikale Regime an die Macht kamen. Die USA, Großbritannien, usw., blieben auch in dieser schwierigen Zeit gefestigte Demokratien. Es brauchte schon diese Schlüsselfiguren wie Hitler und Mussolini, natürlich auch Stalin, damit Schreckensregime entstehen konnten. Ob diese Leute privat "normale Typen" waren, sei dahingestellt. Gegessen, getrunken, geschlafen und gevögelt haben wohl alle (wobei zumindest Hitler mit Letzterem angeblich seine Probleme hatte), aber das macht sie nicht gleich zu "normalen Typen").Die Mentalität, sich von den Tätern klar abzugrenzen und ihnen keinerlei Verständnis entgegenbringen zu wollen, verstärkt diese Barriere. Ihretwegen glauben die Leute, dass Hitler ein Teufel gewesen sei. Dabei war er ein ziemlich normaler Typ von nebenan, den die Gelegenheiten zu einem unglaublichen Massenmörder machten.
Da hast Du Recht. Aber ich schließe mich bardo_eroticos vollkommen an, wenn er meint, dass Hinsehen nicht das Verstehen als Voraussetzung hat. Um bei Deinem Beispiel zu bleiben: Damit ich beim Jugendamt anrufe, brauche ich nicht zu verstehen, warum die Eltern das Kind derart misshandeln ...Verstehen bedeutet Hinsehen. Und Hinsehen bedeutet Verantwortung übernehmen.
Und wenn das auch nur ein einziges Mal so weit eskaliert, dass ein Kind aus einer Missbrauchssituation gerettet wird, weil es am Ende vom Jugendamt aus der Familie geholt wird... Wenn das auch nur ein einziges Mal verhindert, dass ein Mensch immer mehr traumatisiert wird, bis sein Gehirn in Reaktion auf die Zustände Fehlfunktionen entwickelt, die ihn zu einem Unmenschen werden lassen...
Dann hat es sich gelohnt, oder?